So etwas Verrücktes wie soeben habe ich
wohl noch nie in meinem bisherigen Leben gemacht. Gestern Nachmittag beschloss
ich kurzerhand, das Waisenheim eine Woche früher als geplant zu verlassen, also
heute. Ich habe Lust auf neue Abenteuer, will noch mehr erleben, bevor ich in etwa
zwei Wochen in die Zivilisation zurückkehre. Um gemeinsam mit den Kids einen
gebürtigen Abschied zu zelebrieren, machte ich Pizza, bestellte eine Riesenmenge
Pommes im Lokal unseres Dorfes und so kosteten wir die letzten Stunden, die uns
noch gemeinsam blieben, in vollen Zügen aus. Wir lachten, tanzten und hatten
Spaß, doch heute Morgen traf dann das erwartete Drama ein: Die Kids und ich
heulten um die Wette, wir konnten uns absolut nicht beruhigen. Sie hatten mich in
den letzten zwei Monaten, die so unfassbar intensiv waren, irrsinnig
liebgewonnen und ich sie mindestens genauso sehr. Als mein Taxi eintraf, befand
sich zu unseren Füßen ein kleines Meer aus Tränen und meine gesamte Kleidung
war voll salzigem Nass. Während ich in die 17 traurigsten Augenpaare, die ich
jemals gesehen habe und hoffentlich jemals sehen muss, blickte, teilte sich mein
Herz in 17 Stückchen. Niemals werde ich auch nur einen meiner wundervollen
Kiddies vergessen, sie haben mir so viel beigebracht, wir hatten so viel Spaß,
sie sind mir so sehr ans Herz gewachsen. Doch so weh es auch tut, es musste
sein, denn mein Drang nach neuen Abenteuern ist offensichtlich immer noch nicht
gestillt und so stürzte ich mich heute frühmorgens mit einer hohen Dosis
Adrenalin im Blut ins Ungewisse. Nachdem mich nämlich das Taxi nach Njombe
brachte, entschied ich mich, bepackt mit tütenweise, nach Chemie schmeckendem
Proviant, den ich erfreulicherweise an der Bushaltestelle erstand, ohne groß
nachzudenken für den erstbesten von rund 30 Bussen und ließ mir die Wegzehrung
genüsslich auf der Zunge zergehen. Der Bus ist wie immer vollgestopft und aus
dem Radio klingt ohrenbetäubender, afrikanischer Techno. Ich blicke auf mich
runter. Ich bin vom Leben gezeichnet, die vergangenen zwei Monate sind nicht
nur psychisch nicht spurlos an mir vorübergegangen, sondern auch körperlich.
Meine Oberarme sind muskulöser vom harten Arbeiten auf den Feldern, meine
Finger sind offen und rau vom Kartoffelschälen. Rechts neben mir sitzt ein
junges Mädchen, welches sich ununterbrochen in ein undichtes Plastiksackerl
übergibt, was jedoch auch kein Wunder ist bei der Fahrgeschwindigkeit.
Normalerweise sind Afrikaner ja die Ruhe in Person, aber warum auch immer
glauben sie, Stress haben zu müssen, sobald sie ein Fahrzeug lenken. Links
neben mir befindet sich eine Frau, auf dessen Schoß ein kleiner Junge sitzt,
auf dessen Schoß wiederum ein toter Hahn liegt. Es erinnert mich an die Bremer
Stadtmusikanten. Der kleine Junge hält in einer Hand ein klebriges
Karamellbonbon, in der anderen meinen iPod. Gerade höre ich „Allein, zu Zwei,
zu Dritt“ von OK Kid und vorher entschied er sich für etwa 30 Sekunden für „Lissabon“
von Gerard. Gute Wahl, der Kleine sollte DJ werden. Die junge Frau, die hinter
mir sitzt, wickelt gedankenverloren meine Haare um ihre Finger, es fühlt sich
gut an. Ich blicke aus dem Fenster. Ich sehe Elefantenspuren am Straßenrand. Rauch
qualmt aus den Strohdächern. Ein nackter Junge steht vor einer von Palmen und
Bananenbäumen umrankten Lehmhütte und weint. Auf unserem Bus ist Obama
abgebildet, manchmal kommt uns ein Fahrzeug entgegen, mit einem Abbild Jesus’.
Eine Frau sammelt im Bus Müll ein, um ihn kurz darauf aus dem Fenster zu
werfen. Ich bin aufgeregt. Wo werde ich landen? Ich habe keinen blassen
Schimmer, ob wir in den Norden, Osten, Süden oder Westen fahren. Sobald ich
zuhause bin, werde ich mir einen Kompass zulegen, I promise. Wir fahren an
kilometerlangen Teeplantagen vorbei. Die Sonne steht schon gefühlte Stunden
senkrecht am Himmel, was mir auch nicht weiterhilft. Ich habe kein Handy, keine
Landkarte, keinen Reiseführer und abgesehen von den Einwohnern Uhekules weiß
keine Menschenseele, wo ich mich befinde. Nun ja, auch die Einwohner Uhekules
wissen bloß, dass ich auf Reisen bin. 7 Tage, 7 Nächte. Denn dann habe ich ein
fancy Hotel auf Sansibar gebucht, um die Seele baumeln zu lassen und mich
seelisch auf die Zivilisation vorbereiten zu können. Die Sonne scheint. Ich
fühle mich unsterblich. Das Leben ist schön. Das einzige Sache, die eventuell
zu einem Problem werden könnte, ist die mit dem Geld. Ich habe nämlich den Pin
Code meiner Bankomatkarte vergessen. Ich habe ihn vorhin zwei Mal falsch
eingegeben, ich konnte die Zahlenreihenfolge beim besten Willen nicht ins
Gedächtnis zurückrufen, doch jetzt glaube ich, mich erinnern zu können. Ich
besitze bloß 60 000 Schilling, was umgerechnet in etwa 30 Euro entsprich und
damit werde ich nicht wirklich weit kommen. Obwohl der Busfahrer irrsinnig
schnell fahrt, macht er ständig minutenlange Pausen, in denen uns Mangos,
Bananen, Erdnüsse, Maiskolben und Getränke vom Busfenster aus angeboten werden.
Es macht mir nichts aus, ich habe Zeit, die Reise ist mein Ziel. Mein Koffer
befindet sich am Dach des Busses und ich bin heilfroh, dass ich Kamera, sowie
Laptop im Handgepäck verstaut habe, denn ich bin mir nicht so sicher, ob der
Koffer mit mir ankommen wird. Recht stabil schaut das nicht aus. Es regnet
gerade und ich bin froh, dass ich einen Hartschalenkoffer genommen habe,
ansonsten wäre jetzt mein gesamtes Hab und Gut pitschnass. Der kleine Junge
neben mir muss auf die Toilette und so lässt ihn seine Mutter ohne großartig
nachzudenken auf ihren zusammengewickelten Kanga sein Geschäft verrichten. Es
stinkt erbärmlich, vor allem in Kombination mit den zu unseren Füßen liegenden
Säcke voller getrockneten Fisch. Die Menschen rund um mich reden mit mir. Es
macht ihnen ganz offensichtlich nichts aus, dass ich kein Wort verstehe. Sie
reden und reden, lachen, umarmen mich. Es ist eng im Bus, obwohl ich nur 1,59 m
groß bin, muss ich meine Füße anwinkeln. Jede Reihe ist quasi eine letzte
Reihe, denn in jeder sind fünf aufklappbare Plätze vorhanden. In der Schulzeit
haben wir uns immer um die letzte Reihe gezankt, hier wäre das kein Thema. An
der Endstation angekommen, steige ich in einen Bus, der nach Manda fahrt. Ich
habe noch nie davon gehört, doch es klingt schön. Manda. Vielleicht werde ich
meine zukünftige Tochter mal so taufen. Irgendwann. In 15 Jahren oder so. Ich
weiß mittlerweile nicht einmal mehr, ob ich mich noch in Tansania befinde. Die
Landschaft wird immer karger. Die einzige gute Hose, die ich noch habe, zerriss,
als ich vorher im Feld aufs Klo ging. Während die männlichen Businsassen
anfangs noch bei schlammigen Straßenabschnitten aussteigen mussten, um
anzuschieben, sind es nun die steilen Strecken. Wir überqueren seichte Bäche,
ausgetrocknete Flussbeete und die holprigsten Straßen überhaupt. Viele
Passagiere stiegen bereits aus, als der Bus plötzlich stehenbleibt. Während der
Fahrer versucht, die Schrottkarre zu reparieren, wird ein Kanister voller Bambusschnaps
durchgereicht. Mir wird bereits vom Geruch aus einem Meter Entfernung übel und
so lehnte ich dankend ab. Ich schicke Stoßgebetet zu Jesus, Buddha und allen
anderen Herrschern, die mir so einfielen. Wir warten über zwei Stunden, Grillen
zirpen in der feuchten, heißen Luft, es dämmerte bereits und ich habe mich
bereits damit abgefunden, die kommende Nacht irgendwo im Nirgendwo zu
verbringen, als der Bus plötzlich heißersehnte, gurrende Geräusche von sich gibt.
Und plötzlich sehe ich das Meer. Es glitzert. Der Himmel, der von abertausenden
Sternen überseht ist, spiegelt sich darin. Manda ist ein kleines Dörfchen am
Meer. Idylle pur. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Ich liebe den süßen
Duft der Freiheit.
(Nachdem wir uns vor Kurzem im Zuge unserer
allwöchentlichen Movienight Batman angeguckt haben, ist es nun die
Lieblingsbeschäftigung der Kids, diesen nachzuahmen.)
(Noch nie zuvor hab
ich so freudestrahlende Gesichter gesehen, wie an jenem Tag, als unsere Kids
Seifenblasen geschenkt bekamen.)
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